Als Gruppe entscheiden mit der Widerstandsabfrage

Thilko Richter // Fri Feb 4 2022

Ich möchte hier einen Blick auf ein aus meiner Sicht sehr wichtiges Merkmal für die Güte von Organisationen werfen: Entscheidungen.

Häufig habe ich die Entscheidungsfindung in Gruppen eher unstrukturiert erlebt: eine offene Diskussion, selten moderiert und das Ergebnis zufällig und nicht klar kommuniziert. Die eher lauten Teilnehmer bestimmmen das Gespräch, eher Introvertierte halten sich zurück. Die Folge: die Beteiligten gehen mit einem unterschiedlichen Verständnis auseinander, langsame Entscheidungsfindung und Gruppendenken.

Ich denke, dass Entscheidungen in Gruppen in einem dynamischen Umfeld strukturiert mit einem dem Entscheidungsbedarf angepassten Prozess getroffen werden sollten. Ein Prozess der alle Teilnehmer einbindet und die Gruppe voranschreiten lässt.

Ein möglicher Prozess, den ich an dieser Stelle vorstellen möchte, ist die Widerstandsabfrage aus der kollegialen Führung.

Die Widerstandsabfrage kommt als Begriff aus der kollegialen Führung und ist ein Entscheidungswerkzeug. Sie eignet sich, um als Gruppe verschiedene Handlungsoptionen quantitativ zu bewerten und per Rangfolge eine Entscheidung zu treffen.

Grundmerkmale

Wie messen nicht die Zustimmung(so wie es z.B. bei Mehrheitsentscheidungen der Fall ist), sondern den Widerstand der Teilnehmer. Die Lösung mit dem geringsten Widerstand gilt als die akzeptierte Lösung.

Was ist der Vorteil? Eine Konsenslösung in Gruppen zu finden ist schwierig bis unmöglich. Schließen wir aber die “akzeptierten” Lösungen mit ein, erhöhen wir den Handlungsspielraum der Gruppe.

Die Frage nach Ablehnung und nicht nach Zustimmung verringert zudem die Gefahr von Machtspielen, denn es geht nicht mehr darum, andere auf “meine Seite zu ziehen”.

Ablauf

1. Moderator:in bestimmen

Unabhängig vom gewählten Entscheidungsprozess macht es macht Sinn eine:n Teilnehmer:in zu bestimmen, der die Rolle der Moderation übernimmt. Der:Die Moderator:in erklärt bei Bedarf auch den Prozess.

2. Enscheidungsbedarf verstehen

Der:Die Anliegengeber:in stellt nun das Anliegen vor. (Beispiel: Wir möchten gemeinsam ein Teamevent organisieren.) Dabei klärt der:die Moderator:in je nach Anliegen zusammen mit dem Anliegengeber:in worum es geht und was den Entscheidungsbedarf ausmacht. Je nach Komplexität der Entscheidung kann es auch sinnvoll sein, die übergeordnete Fragestellung herauszuarbeiten.

3. Informationsrunde

Nun werden alle Informationen ausgetauscht, die für die Entscheidungsfindung notwendig sind. Hier werden keine Meinungen ausgetauscht, es geht nur darum, sachdienliche Hintergrundinformationen zu sammeln.

Soll zum Beispiel das nächste Teamevent geplant werden, könnten jetzt die Rahmenbedingungen erfragt werden:

  • Was ist das verfügbare Budget?
  • In welchen Zeitraum soll es stattfinden?
  • Wer darf daran teilnehmen?

3. Meinungsrunde

Sind alle Informationen ausgetausch und transparent, fordert der:die Moderator:in nun die Teilnehmer auf, Ihre persönliche Sicht auf die Spannung zu schildern. Wichtig ist auch hier dabei, eine wertschätzende Kommunikation beizubehalten. Geteilt werden können zum Beispiel individuelle Wünsche an eine gute Lösung.

Bezogen auf das Teamevent könnten die Teilnehmer:innen Ihre Wünsche äußern:

  • möglichst mit sportlichen Aktivitäten, auf keinen Fall Hochseilgarten
  • lieber etwas entspannendes
  • möglichst nur am Abend

4. Vorschlagsrunde

Nun erarbeiten alle Teilnehmer einen oder mehrere Vorschläge, die dass Anliegen adressieren. Immer mit dabei: die “Passivlösung” - also die Option, wenn nichts geändert wird. Warum ist das wichtig? Es kann bei der Abstimmung passieren, das der Status Quo weniger Widerstand erzeugt als die neuen Vorschläge. Dann wäre es sinnvoller nichts zu tun.

Wären Vorschläge für ein Teamevent gesucht, könnten die lauten:

  • Escape Room
  • Gemütliches Essen beim Italiener um die Ecke
  • Go-Kart fahren

5. Widerstandsabfrage

Nun gibt jeder Teilnehmer zu jedem Vorschlag eine Wertung in Form eines Widerstandswertes ab. Die Skala geht von 0(kein Widerstand) bis 10(max. hoher Widerstand). Andere Skalen (0-5) sind auch möglich. Je höher die Zahl, desto höher der Widerstand. Enthaltungen werden als 0 Punkte gezählt.

Nach der Abfrage kann es beispielsweise folgendes Ergebnis geben:

Teilnehmer Escape Room Essen gehen Go Kart Passivlösung (kein Teamevent)
Martin 2 3 3 5
Max 6 3 2 5
Nora 9 1 3 6
Summe 17 7 8 16

6. Auswertung & Ergebnis

Nun werden alle Stimmen pro Vorschlag ausgezählt. Der Vorschlag mit dem geringsten Widerstandwert (Essen gehen) ist die akzeptierte Lösung der Gruppe. Es fällt außerdem auf, das der Vorschlag “Go Kart fahren” einen höheren Widerstandswert als die Passivlösung hat. Kein Teamevent zu haben ist damit akzeptierter, als sich zum Go Kart fahren zu zwingen.

Erfahrungen

Der Prozess regt die konstruktive Entscheidungsfindung in Gruppen an. Bei schwierigen Entscheidungen mit mehr Ungewissheit und Polaritäten kann die direkte Auswahl der akzeptierten Option zu schnell sein: zu viele Fragen sind noch offen. In dem Fall kann es Sinn machen die erste Widerstandsabfrage nur als Stimmungsbild zu betrachten, danach die Vorschläge nochmal überarbeiten zu lassen und dann in die Wertung zu gehen.

Manchmal kann es passieren, das die Vorschläge nicht konkrete Lösungen für die Spannung sind, sondern eher “da müssen wir mal drüber reden” Optionen sind. Je nach Gruppenstimmung sortiere ich die heraus, oder nehme das als Zeichen wahr dass noch keine Entscheidung getroffen werden kann. Dann wäre ein anderes Moderationsformat angebracht.

Es ist sehr wichtig, die Passivlösung - also den Status Quo - mit aufzunehmen.

Im Kern geht es darum, “Widerstände” und nicht Zustimmungen abzufragen. Lässt es der Entscheidungsbedarf sehr einfach, kann der Moderator auch Informations-, und Meinungsrunde überspringen und nach einer Vorschlagsrunde gleich die Bewertungen sammeln. Dann dauert der Prozess nur wenige Minuten und erleichtert die Entscheidungsfindung in Gruppen erheblich.